Utopische Demokratie-Reformen
Wenn ein Volldemokrat von seiner Arbeit erzählt, verfällt ein gewöhnlicher Mensch in ehrfürchtiges Staunen: 70, ja 80 Stunden pro Woche ist der Abgeordnete unterwegs, Termine von früh bis spät, mal in Berlin, mal im Wahlkreis, mal anderweitig vor Ort. Frau und Kinder sieht er nur selten, und wenn, dann hat er diese ein bis zwei Stündchen anderen Terminen gestohlen. Wer das auf sich nimmt, muß sein Land wahrlich lieben, oder?
Die Wirklichkeit sehen wir bei den kurzen Kameraschwenks im Plenarsaal. Der ist zumeist gähnend leer, ein Fünftel der Abgeordneten hocken herum, oft sind es sogar weniger. Brechend voll ist der Saal nur beim Holocaust-Gedenken und wenn über eine Diäten-Erhöhung abgestimmt werden soll. Die vielen Termine finden irgendwo bei alkoholischen Getränken statt, andere Leute nennen das "Stammtisch". Der Abgeordnete selbst drückt sich vor Arbeiten, wo immer er kann. Dank der Fraktionsdisziplin weiß er, wie er abzustimmen hat, da braucht er sich nicht lange zu informieren. Ein Gewissen ist überflüssig, schließlich ist es die Partei, die einem zur Wiederwahl aufstellt.
Der normale Abgeordnete mag studiert haben, sogar einen Doktortitel tragen. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, daß er zur intellektuellen Blüte unseres Landes gehört. Wer in einem normalen Beruf gut ist, wird diesen nicht aufgeben, um Hinterbänkler im Bundestag zu werden. Komplette Nullen kann nicht einmal die Politik brauchen, deshalb ist es das Mittelmaß, das letztlich in die Parlamente zieht. Damit sitzt man am Futtertrog der Macht, doch der Neuling hat nur vier Jahre Zeit, Verbindungen zu knüpfen und sich zu bereichern. Wenn die Parteispitze pünktlich zu den Neuwahlen in einen Skandal schlittert, wanken selbst sicher geglaubte Listenplätze. Doch wenn die Wiederwahl klappt, gibt es wieder vier Jahre, um sich die Taschen zu füllen.
Aber wollen wir ein derartiges Handeln diesen Menschen wirklich verdenken? Menschen - das ist das Schlüsselwort, denn wir sind alle Menschen, mit Stärken und Schwächen. In einer Partei sitzen alle im gleichen Boot. Die meisten rudern, nur wenige haben es auf das Sonnendeck geschafft. Und der Laderaum ist voller Schmuggelgut, voller "Leichen im Keller". Die Ruderer wissen nichts davon, und wer aufsteigt, der muß sich derart sicher in den Händen der Parteiführung befinden, daß er es nie wagen wird, etwas zu verraten. Dafür wird Schweigegeld bezahlt, dafür gibt es Pfründen und Pöstchen. Die Partei ist eine Versicherung auf Gegenseitigkeit.
Ja, ich beschreibe hier die Dekadenzphase der Demokratie, die Zerfallserscheinungen, nachdem die Parteien jahrzehntelang geherrscht haben. Bei einem Neuanfang, nach einem Zusammenbruch, sitzen fast immer Patrioten in der Regierung, während Kriminelle in die Gefängnisse geworfen werden. In der Dekadenzphase wandern die Patrioten ins Gefängnis, weil sie die Kriminellen in der Regierung in ihrer Machtentfaltung stören und gefährden. Den Parteien brechen die Fundamente weg, ihre Mitgliederschaft altert, es sterben mehr Mitglieder als neu eintreten. Zu Reformen ist der Machtapparat nicht mehr fähig, denn diese Reformen würden die Mächtigen hinwegfegen.
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