Herr Bryde, ein Apfel und ein trauriger Delphin
Kapitel 1
Meine Frau stammt aus einem kleinen Fischerdorf, Pak Tako, in der Nähe von Chumphon.
Ihr Grossvater war Fischer, ihr Vater war Fischer und ihr Bruder ebenfalls. Und so schaute
sie schon als kleines Mädchen nach den Booten, kamen sie von nächtlicher Fahrt nach Hause.
Heute sind die Fänge klein wie die Fische. Es war nicht hauptsächlich die Schuld der etwas
wackligen, bunt lackierten Fischerboote, dass es so kam. Es sind die grossen Flotten vieler
Länder, die weit draussen den Golf von Thailand abfischen. Ein Supertrawler beispielsweise
fängt bis zu 250 Tonnen Fisch an einem Tag. Und selbst, wenn die Konzerne meist mit etwas
kleineren Fangbooten vor Ort sind, die Zahl lässt ahnen, was passiert ist, was passieren
musste. Doch davon ahnte das kleine Mädchen Epon (Apfel) am Pier von Pak Tako nichts. Ihre
unbeschwerte Kindheit liess den düsteren Blick in die Zukunft nicht zu, Kinderaugen sehen, was
sie sehen wollen, hoffnungsfroh und unschuldig. Und so stand sie eines Tages wieder am Meer
und wartete auf den Vater, der im Morgengrauen von der Ausfahrt kam. Wie so oft, war das
Boot zum bersten voll und es war wieder einer dabei – ein Delphin. Das war damals nicht selten,
es schwammen genug in den blauen Fluten. Pak Tako liebte Delphine, der Geschmack war für
die meisten Bewohner eine Delikatesse. Nur das kleine Mädchen lief immer ganz schnell weg,
wenn es sah, es waren Delphine an Bord…
Heute ist das kleine Mädchen 39 Jahre alt und erzählt mir ihre Geschichten. Sie selbst findet sie
nicht spannend, ihr Farang fragt aber danach. Warum auch immer, manchmal ist er seltsam genug.
Und so hakte ich nach, ob sie denn kein Delphinfleisch mochte und sie sagte mir, dass sei nicht der
Grund gewesen, sie habe nie davon gekostet. Als sie einmal zusah, wie der Fang entladen wurde,
sah sie einen Delfin, halbtot, oder schon tot, sie weiss es nicht mehr. Was sie weiss und sah - da
waren riesige Tränen, die dem Delphin aus den Augen liefen. Sie rannte so schnell sie konnte Heim.
Das tat sie fortan immer, sah sie einen Delphin auf einem der Boote. Mein leiser Einwand war, dass
man das von vielen Tieren im Todeskampf kennt und Wissenschaftler nicht ganz sicher sind, ob diese
Reaktion mit Trauer, Angst oder Schmerz zu tun hat. Aber da kam das kleine Mädchen in ihr durch
und sie sagte mir mit weit aufgerissen Augen und mit Trotz im Blick, dass der Delphin weinte und
nichts anderes. Ich muss zugeben, dass auch mir der Gedanke irgendwie gefällt. Er ist vielleicht in
seiner Tragik romantisch verklärt, aber er schafft Mitleid mit der Kreatur, mit einem geschundenen
Wesen. Und mit aufrichtigen, tiefen Gefühlen fängt das Menschsein doch erst richtig an.
Kapitel 2
Herr Johan Bryde (1858-1925) war Norweger, Walfänger und Schiffseigner. Er hat viele Delphine in
seinem Leben gesehen, obwohl im Wale immer wesentlich wichtiger waren. Und ein Wal trägt seinen
Namen – der Brydewal. Nach den Minkwalen ist der Brydewal der meistgejagte Wal in den
Weltmeeren. Der Grund ist klar, er ist vergleichsweise häufig und nicht akut vom Aussterben bedroht.
Und so geschah es, dass ich diesen Wal schon zweimal im Golf von Thailand beobachten durfte. Das
letzte Mal im Juli 2014, es waren genau drei Tiere. Wir fuhren mit dem Katamaran aus dem
Chumphoner Fluss ins Meer und schon nach wenigen Minuten, nah an der Küste, konnten wir die Tiere
beobachten. Man kann sie kaum verwechseln. Der sehr eigene Schwimmstil und die im Vergleich zur
Körpergrösse sehr kleine Finne, wir hatten es mit Brydewalen zu tun. Die Thais waren sehr aufgeregt,
weil sie meinten, es sei ein sehr gutes Zeichen, dass wieder häufiger Brydewale zu sehen sind. Dem
ist leider nicht so, der Schein trügt ein bisschen, wie so manche Dinge im Leben. Ich erinnere mich an
eine ähnliche Meldung, die neulich durch die Schlagzeilen ging … "Brydewal vor Phuket gesichtet!" Ach,
wären es doch mehr Delphine, die Freude wäre kostbarer. Warum schreibe ich das? Nun, das Meer wird
leer gefischt und pausenlos verschmutzt. Es entsteht, besonders küstennah, sehr viel Phytoplankton,
die übermässigen Nährstoffe tun ihr Werk. Phytoplankton ist wiederum die Nahrung vom Zooplankton,
letzteres die Nahrung unzähliger Fischarten. Sind diese nicht mehr vorhanden, treten die Wale auf den
Plan, welche die Massen an Krill und co. verspeissen. Darum kommen sie vermehrt in den Golf von
Thailand, darum sind sie nah der Küsten – ein krankes Meer hat den Tisch gedeckt, der Wal nimmt Platz.
Viele Stühle bleiben leer am Tisch, so bleibt mehr für ihn und das Meer leidet still und heimlich weiter.
Freude? Aber ja, sehe ich die Wale majestätisch am Boot vorüberziehen, bis zu 15 Meter lang, bis zu 25
Tonnen schwer, kommt so viel Sinn für die Natur, für den Ursprung des Lebens in mein Herz, man muss
den Moment fast zwanghaft geniessen. Und doch, so schön es auch anmutet, so genial der Augenblick,
im Hintergrund steht die Ausrottung vieler Fischarten, der unsichtbare Kahlschlag unter Wasser. Wenn
der letzte Fisch gefangen wurde und der Brydewale noch zahlreicher in die neue Nische tritt, wird man
sich auf den grossen Booten an ihn erinnern. Vor allem an den Geschmack seines Fleisches. Und er wird
weinen müssen, wie einst der sterbende Delphin in Pak Tako. Der Mensch kennt kein Erbarmen.