Sec geschrieben : (aus Schweizer Sicht)
Fifa-VerhaftungenWeltmeisterschaft der HeucheleiVon Markus Somm. Aktualisiert am 06.06.2015
Ist die Fifa korrupt? Es sieht so aus.
Müssen wir uns darüber den Kopf zerbrechen? Nein.Wenn ich die Aufregung verfolge, die der sogenannte Fifa-Skandal ausgelöst hat, beschleicht mich Unbehagen.
Diese moralische Entrüstung, diese vielen Zeitungsseiten in der gesamten Weltpresse (auch in der BaZ),
diese Interviews und Distanzierungen (wer ist heute noch ein Freund von Sepp?), diese unvermeidlichen
Reformforderungen,
diese Politiker, die sich nun die Nase zuhalten,
nachdem sie vor Kurzem mit dem Fifa-Präsidenten auf der Ehrentribüne gesessen haben: Warum?
Ist die Fifa die Weltregierung?
Hat Sepp Blatter einen Krieg angezettelt?
Am Dienstag dieser Woche hat Sepp Blatter, langjähriger Präsident des internationalen Fussballverbands Fifa,
seinen Rücktritt bekannt gegeben.
Es hat etwas Disproportionales. Gewiss, Fussball ist wichtig, weil es viele Menschen (Männer) bewegt.
Natürlich: Niemand hört es gern, dass Leuten in Hotels Couverts zugesteckt werden, über deren Inhalt
niemand etwas wissen will.
Korruption? Wer, der bei Verstand ist, würde das verteidigen?Unter Herdentieren
Doch hier beginnt das Unbehagen: Wenn alle sich in ihrer Empörung so einig sind, ist Vorsicht angebracht.
Wo alle recht haben, können sie sich geradeso gut irren, ohne dass es jemand bemerkt.
Abgrund der 99-Prozent-Mehrheiten.
Denn im Grunde geht uns dieser Skandal viel weniger an, als die meisten sich einbilden.
Die Fifa ist ein Verein wie andere Vereine auch, in erster Linie privater Natur, wenn man es streng
formell betrachtet. Die Fifa erhält keine Steuern (wenn auch Steuervergünstigungen), sie ist kein
Staat, sie macht keine Gesetze, sie verfügt über keinerlei Zwangsmittel. Und ihre Funktionäre sind
keine Beamten, deren Salär ich bezahle.
Nehmen sie Bestechungsgelder an, wem schaden sie? Ihrer eigenen Organisation, was den Ruf anbelangt – vor allem aber den Bestechenden,
die Geld verteilen, das ihnen meistens auch nicht gehört. Korruption müsste diese Länder interessieren,
deren Politiker S teuergelder eingesetzt haben, um eine Fussball-WM zu erhalten. Die Schweiz hat sich
Gott sei Dank nie um diesen wirtschaftlichen Unsinn beworben.
Wer von uns, die sich entrüsten, wurde denn geschädigt? Sind die Mitglieder der Fussballverbände betrogen worden,
der Nachwuchsspieler vom FC Möhlin oder der Trainer der Young Boys Bern? Hat der FCB deshalb weniger Einnahmen
oder Zuschauer?
Man sagt, wir alle bezahlten die Fifa via Senderechte, welche die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten für
gigantische Summen erwerben. Über unsere Konzessionsgelder finanzieren wir demnach das Lotterleben der
Fifa-Funktionäre. Auch wenn das unpopulär klingen mag,
kein Sender ist gezwungen, sich diese Ausstrahlungsrechte zu sichern – weder die SRG noch die ARD noch die BBC.
Verzichteten sie darauf, würden Private einspringen – und jeder Fan könnte die WM schauen, sofern er bereit ist, zu bezahlen. Ein normaler Vorgang in einer Marktwirtschaft.
Wir haben nie darüber abgestimmt, dass die Fifa-Senderechte von der SRG um jeden Preis gekauft werden müssten.
Noch ist Fussball schauen kein Menschenrecht, das man in Strassburg einklagen könnte. (Vielleicht kommt es noch so weit.)
Zugegeben:
Wenn ich die Paläste der Fifa in Zürich betrachte oder wenn ich die hohlen politischen Statements dieses Vereins
für Freizeitgestaltung höre, die so klingen, als wäre der Fussball eine runde Version der UNO,
werde ich misstrauisch. Je frommer der Christ tut, desto mehr Sünden hat er begangen.
Niemand hat so starke Anreize, sich als Weltverbesserer zu inszenieren, wie derjenige, der problematische Geschäfte getätigt hat.
Korrupten Unternehmern empfiehlt der erfahrene PR-Berater, ein NGO für Korruptionsbekämpfung ins Leben zu rufen oder eine
Stiftung zu gründen, die in Indien Sklavenarbeiter aus dem Slum befreit.
Wenn die Fifa sich zum Propheten der Entwicklungshilfe aufschwingt oder als Friedensstifterin und Antirassismusagentur die
Stadien füllt, dann stimmt etwas nicht.
Die Fifa ist Teil der Unterhaltungsindustrie.
Nichts mehr, aber auch nichts weniger.
Die Fifa sollte so behandelt werden. Sie darf sich aber auch nicht als etwas anderes betrachten.
Korruption in Afrika. Ach ja?Der Fifa-Skandal ist eine Weltmeisterschaft der Heuchelei.
Zum Beispiel die Politiker:
Dass Südafrika vermutlich geschmiert hat, Russland oder Katar: Sind wir überrascht?
Und wer glaubt ehrlich, man könnte das so leicht ändern? Selten hören wir von westlichen Politikern, die nach Südafrika fahren, dass sie bei dieser Gelegenheit
die endemische Korruption kritisieren – die seit dem Ende der Apartheid enorm zugenommen hat –
worüber man in unseren Zeiten der politischen Korrektheit ebenfalls höflich schweigt. Es sei denn, die Fifa aus dem bösen Zürich ist involviert.Ist es nicht Heuchelei, sich auf einmal über die grauenhafte, aber normale Korruption in solchen Ländern zu enervieren?
Ist Sepp Blatter schuld, dass in Russland seit Peter dem Grossen fast nichts läuft ohne Zustupf am richtigen Ort? Vor allem irritiert, dass man sich sonst so wenig um den Zustand dieser Länder schert.
Nur wenn WM ist, gilt Brasilien plötzlich als Land der systematischen Menschenrechtsverletzungen,
und jeder Journalist entdeckt die miserablen Arbeitsbedingungen auf brasilianischen Baustellen. Das alles mag schlimm genug sein.
Wem es aber um die Sache geht, der schreibt länger und öfter darüber als nur zur WM-Zeit.
Ein Minister in der mehr oder weniger mittelalterlichen Monarchie Katar hat neulich zwischen den Zeilen Homosexuellen empfohlen,
nicht an die Fussball-WM im Wüstenland zu kommen.
In Katar ist es verboten, schwulen oder lesbischen Sex zu praktizieren.
Eine unerträgliche, bornierte, intolerante Aussage. Und ein Gesetz, das fundamentale Menschenrechte bricht. Keine Frage.
Doch es ist eine ziemlich verbreitete, häufig offizielle Position in den meisten muslimischen Ländern dieser Welt.
Wer auf diese Tatsache hinweist, gilt ausserhalb der WM-Saison bestenfalls als islamkritisch,
meistens muss er sich als islamophob beschimpfen lassen.
Wo leben Homosexuelle freier und menschenwürdiger? In Israel oder in Gaza?Elend des doppelten Standards.
Genauso irritiert, dass von allen internationalen Organisationen, die es so zahlreich gibt auf unserem Planeten,
nur die Fifa offenbar korrupt ist. Selten entwickeln Kritiker, Journalisten und Politiker die gleiche Energie, wenn es darum geht, eine der wohl
korruptesten Organisationen aller Zeiten zu kritisieren: die UNO. Hier sind im Gegensatz zur Fifa Steuergelder betroffen.
Hier besteht ein klares öffentliches Interesse. Hin und wieder stehen sogar Menschenleben auf dem Spiel.
Kleinlaute Kritiker
Niemand in den Medien recherchiert aber in Genf oder in New York je so hartnäckig wie in Zürich bei der Fifa. Ich möchte hier nicht die UNO verteufeln – das ist nicht das Thema dieses Kommentars, sondern etwas anderes.
Die ganz grosse Mehrheit der Länder dieser Welt ist korrupt.
Wer nicht, stellt eine kleine Minderheit dar.
Das ist unschön, das schadet diesen Ländern, das ist eine Katastrophe für deren Bürger – und wir alle hätten es gerne anders.
Aber wenige sind so selbstbewusst, dass sie wüssten, wie man das verbessern könnte.
Aus diesem Grund ist es fast unmöglich, eine internationale Organisation aufzubauen, ohne Korruption zu erdulden.
Was stellen sich diese Kritiker vor? Dass die Fifa in Afrika oder Südamerika mehr erreicht als die UNO oder Amerika oder die EU?
Wer in diesen Ländern etwas bewirken möchte, wer mit diesen Ländern und ihren Politikern und Beamten zu tun hat, ist sehr
schnell mit der Frage der Korruption konfrontiert. Die Fifa hätte nie international werden dürfen, hätte sie sich das ersparen wollen.
Besonders die deutschen Journalisten haben sich auf die Fifa eingeschossen. Auch deutsche Fussballfunktionäre gelten als die härtesten Blatter-Kritiker.
Doch wer hat das Klima der Korruption im Fussball von Anfang an befördert?
Es ist der grösste deutsche Sportartikelhersteller Adidas, wie Journalisten recherchiert haben. Ist Adidas in den deutschen Medien je ein so grosses Thema wie die Fifa? Horst Dassler, Sohn des Firmengründers, hat dafür gesorgt,
dass Adidas WM für WM zum Hoflieferanten der Fifa wurde. Wie?
Darüber schweigt man vornehm. Der grosse Horst Dassler hat auch dafür gesorgt, dass ein junger Mann namens Sepp Blatter seine Karriere bei der Fifa beginnen konnte.
Sicher wäre es auch aufschlussreich, man würde einmal die Vergabe der WM an Deutschland untersuchen.Damit keine Missverständnisse aufkommen: Adidas ist eine tüchtige Firma, Horst Dassler ein genialer Unternehmer,
Sepp Blatter der wohl erfolgreichste Sportfunktionär aller Zeiten.
Als Blatter bei der Fifa anfing, war sie bankrott.
Das kann man heute so nicht mehr behaupten. Ebenfalls ist es gar kein Problem, wenn eine Firma dafür kämpft, dass sie einen Exklusivvertrag erhält –
dabei sind auch fast alle Mittel erlaubt –, solange die Gegenpartei, um die es geht, nicht so tut, als wäre sie eine staatliche
oder öffentliche oder noch besser: weltverbessernde, moralisch höher gestellte Organisation. Solange sie nicht so tut,
als wäre sie die Fifa.
Das ist der wahre Sündenfall der Fifa.
Sie ist Teil der internationalen Unterhaltungsindustrie wie ein Filmstudio in Hollywood oder ein Turnerabend in Liestal –
und wollte partout mehr sein. Man sollte sie sofort privatisieren. Dann dürfen sich die Aktionäre den Kopf darüber zerbrechen,
wer wem wann ein Couvert zugesteckt hat. Und nicht die ganze empörte Welt.
(Basler Zeitung)
Erstellt: 06.06.2015, 08:11 Uhr
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