Den Deutschen fällt auf, dass sich die Amerikaner zurückziehen:
Eher zufällig bekommen Diplomaten der deutschen Botschaft in Kabul die dramatischen Veränderungen in ihrer Stadt mit. Es ist der 14. August, ein Samstag, als ihnen bei einer Fahrt durch die »Green Zone«, das gesicherte Regierungs- und Diplomatenviertel der Stadt, auffällt, dass die Amerikaner ihre Schutzkräfte still und leise zurückgezogen haben, es waren Hunderte. So berichten es die Diplomaten später.
Auch die sonst schwer bewachten Zugänge zum politischen Zentrum der Stadt sind nicht mehr mit US-Soldaten besetzt, ihre gepanzerten Fahrzeuge sind verschwunden. Selbst die Straße zum Flughafen schützen die Amerikaner nicht mehr.
Erst nach hektischen Telefonaten bringt die Botschaft in Erfahrung, dass die USA alle Kräfte auf das eigene Botschaftsareal zurückgezogen haben, von dort bringen Hubschrauber bereits amerikanische Diplomaten zum militärischen Teil des Flughafens. Damit steht fest: Die USA haben mit der Evakuierung der Botschaft begonnen. Auch der ebenfalls in der »Green Zone« gelegene Präsidentenpalast von Ashraf Ghani ist mehr oder minder schutzlos.
Um 13.34 Uhr an diesem Tag setzt die deutsche Vertretung eine Warn-Mail nach Berlin ab, dass sich die Sicherheitslage durch den Rückzug der US-Kräfte weiter verschlechtert habe. Die Deutsche Botschaft sei auf den Schutz des äußeren Rings um die »Green Zone« angewiesen. Deswegen prüfe man, sich nicht besser ebenfalls am militärischen Teil des Flughafens in Sicherheit zu bringen.
Tags darauf kabelt der stellvertretende deutsche Botschafter, Jan Hendrik van Thiel, nach Berlin, die USA hätten die anderen westlichen Diplomaten »zur sofortigen Verlegung« an den Kabuler Flughafen aufgefordert. Da auf der Straße kein Durchkommen mehr ist, fordert die US-Botschaft die anderen Diplomaten auf, sich sofort zum alten Nato-Hauptquartier in der »Green Zone« zu begeben.
Um 10.34 Uhr schreibt van Thiel: »Wir machen uns abmarschbereit! HABEN WIR GRÜNES LICHT?!« Die Antwort aus dem Auswärtigen Amt: »Haben Sie!«
Um 10.36 Uhr meldet van Thiel: »Wir sind dann erst mal nur noch per Telefon zu erreichen. Wir zerstören die IT. Schönen Sonntag noch, Ende.«
Überrumpelt von den Ereignissen
Der Abschiedsgruß des stellvertretenden Botschafters wirkt zynisch. Kein Wunder, schließlich hatte niemand in der Bundesregierung die plötzliche Übernahme Kabuls durch die Taliban am vergangenen Wochenende vorhergesehen. Ob Entwicklungshelfer, Militärs oder Diplomaten – alle wurden von den Ereignissen überrumpelt. Obwohl die Deutschen 20 Jahre lang so viel Geld, Energie und Expertise in das Land am Hindukusch investierten, fehlte ihnen im entscheidenden Moment das Gespür für die Dynamik der Entwicklung.
Nicht einmal auf den Bundesnachrichtendienst (BND) war am Ende Verlass. Zwar warnte der Geheimdienst seit Jahren vor einem möglichen Zusammenbruch Afghanistans und wies darauf hin, dass weder die Streitkräfte noch der politische Apparat stabil seien.
Allerdings sei man damit weder im Auswärtigen Amt noch im Verteidigungs- oder Entwicklungshilfeministerium auf offene Ohren gestoßen, heißt es aus Sicherheitskreisen. Mehrere über die Jahre mit den Vorgängen vertraute Personen berichteten dem SPIEGEL von »teilweise frustrierenden Momenten«. Ein düsteres Bild zeichneten die Geheimdienstanalysten im Dezember vergangenen Jahres, also acht Monate vor dem Fall Kabuls: Sie prophezeiten die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan und ein »Emirat 2.0«. Ihre Warnung blieb folgenlos.
Bei der Beurteilung, wie schnell die Taliban das Land erobern würden, aber irrten sich auch die Mitarbeiter des deutschen Auslandsnachrichtendienstes.
Am vergangenen Freitag, also zwei Tage vor der Flucht der verbliebenen deutschen Diplomaten an den Flughafen Kabul, trägt ein BND-Vertreter im Berliner Krisenstab laut Protokoll noch vor, die Taliban-Führung habe nach Erkenntnissen des Dienstes »kein Interesse an einer militärischen Einnahme Kabuls«. Der BND geht davon aus, dass die Taliban keine militärische Auseinandersetzung anstreben, weil die Amerikaner und Türken Kabul noch schützen.
Fürsorgepflicht massiv vernachlässigt
Vielmehr erwartet der Dienst, dass die Taliban-Kämpfer den Ring, den sie um die Hauptstadt gezogen haben, so lange aufrechterhalten, bis die Regierung aufgibt – was wenig später ja tatsächlich passiert.
Die Aussagen versieht der Geheimdienstmann jedoch mit mehreren Einschränkungen. So sei der Einfluss der Taliban-Führung – damit ist der politische Arm der Islamisten in der katarischen Hauptstadt Doha gemeint – auf die Kämpfer »nicht uneingeschränkt gegeben«. Zudem könnten andere Faktoren den Fall von Kabul beschleunigen, zum Beispiel ein schnellerer Rückzug der internationalen Soldaten aus der »Green Zone« oder Absetzbewegungen innerhalb der afghanischen Elite.
Das Ende seines Vortrags zeugt davon, dass auch der Dienst angespannt ist, denn vor den versammelten Beamten bittet der BND-Mann dringlich um die Aufnahme von möglichst allen afghanischen Mitarbeitern des deutschen Auslandsgeheimdienstes in das Schutzprogramm für Ortskräfte, damit sie schnell aus Afghanistan rauskommen...
Auszugsweise (Paywall) :
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/rekonstruktion-des-deutschen-scheiterns-in-afghanistan-wir-machen-uns-abmarschbereit-a-77cbaa83-219d-47dd-ba66-71b2f1e5d709