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Der Sonntagsfahrer: Der Zuglauf von OschatzDer „Zuglauf von Oschatz“ hat das Zeug, in die Eisenbahn-Geschichte einzugehen, so ähnlich wie der Einsturz der Brücke am Tay, nur nicht so tragisch, sondern heldenhaft. Jedenfalls gab es bei der Weiterfahrt stehenden Applaus.
Der Abstieg der Bahn und der gleichzeitige Aufstieg der volkstümlichen Bahngeschichten sind kommunizierende Röhren. Je schlechter der Mensch auf den Schienen verkehrt, desto besser werden die Geschichten darüber. Das Genre gehört im weitesten Sinne zu den modernen Sagen, neudeutsch „Urban Legends“. Die Protagonisten einer modernen Sage sind meist nicht namentlich bekannt. Oft wird berichtet, die jeweilige Geschichte sei dem Freund eines glaubwürdigen Bekannten passiert. Daher stammt die englische Bezeichnung „FOAF tales“: „friend of a friend tales“.
Das folgende Bahn-Kabinettstück erreichte mich allerdings auf fast direktem Wege. Der Achgut-Kameramann rief heute morgen bei mir an und reichte das Telefon an seine Freundin weiter, die oft mit der Bahn zwischen Leipzig und Dresden pendelt. Sie hat mein Buch „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts“ gelesen und plädierte sogleich für einen Fortsetzungsband mit dem Titel „Hilfe, mein Waggon überholt mich links“, wahlweise „Neun Euro für ein Halleluja“. Und da mir mitunter, besonders wenn es lustig wird, jede Relotiade zugetraut wird, hier der Hinweis: Die Story stimmt, ich schwör. Und sie trug sich am vergangenen Freitag genauso zu.
Am Hauptbahnhof in Leipzig wartete eine riesige Neun-Euro-Crowd gegen Mittag auf den Regionalexpress nach Dresden. Rucksäcke, Taschen und Koffer in Hab-Acht-Stellung, um jederzeit für den Sturm auf die freien Plätze gewappnet zu sein. Das erinnert ein wenig an den früheren „LeMans-Start“, bei dem sich die Rennfahrer des 24-Stunden-Rennens auf der Fahrbahn gegenüber ihren Boliden aufstellen mussten und auf ein Zeichen hin über die Strecke sprinteten, sich ins Auto schwangen und dann in einem gewaltigen Tohuwabohu losrasten.
Aussteigen, um einen Dienst an der Gemeinschaft zu leistenDer Zug hatte bei seiner Einfahrt in den Leipziger Hauptbahnhof die übliche akademische Viertelstunde Verspätung, genauer gesagt 20 Minuten, kam also nach Bahnsommerzeit maximal pünktlich an. Es fehlte allerdings ein Waggon. Der muss irgendwo unbemerkt abhandengekommen oder vergessen worden sein. Vielleicht streikte er auch wegen Altersschwäche und wurde auf einem einsamen Abstellgleis künstlich beatmet. Der geschrumpfte Regionalexpress wurde dann entschlossen geentert, ganz so, als handele es sich um die Grenzzäune der spanischen Enklave Melilla. Etwa ein Viertel der Reisewilligen musste allerdings draußen bleiben und guckte verzweifelt in die Röhre beziehungsweise das Ausfahrtsgleis des Leipziger Hauptbahnhofs.
Diejenigen im Zug, die geglaubt hatten, es geschafft zu haben, wurden aber sehr schnell eines Besseren belehrt, denn in Borsdorf, dem nächsten Bahnhof, kam die Neun-Euro-Fuhre ächzend zum Stehen. Über Lautsprecher wurde dekretiert, dass der Zug das maximale Zuladegewicht um fünf Prozent überschreite und deshalb leider nicht weiterfahren könne. Und dass Reisende, die nix Wichtiges vorhätten, bitte aussteigen mögen, um einen Dienst an der Gemeinschaft zu leisten, sie würden von einem Nachfolgezug später aufgelesen. Eine Einladung, die den Angesprochenen so verlockend erschien wie das sozialverträgliche Frühableben.
Jedenfalls zog die Sache sehr viele fragende Gesichter nach sich. Beispielsweise: Ist ein Mathematiker an Bord, der ausrechnen kann, wie viele Reisende fünf Prozent Zuladegewicht ausmachen? Oder: Was krieg ich, wenn ich aussteige? Die Wartezeit konnte für vielfältige Sozialstudien genutzt werden, meine Gewährsfrau überlegt, eine Doktorarbeit zum Thema „Solidargemeinschaft Deutsche Bahn“ zu verfertigen. Da war die Mutter von drei Kindern, die nervös dem Zeitpunkt entgegensah, an dem die zur Besänftigung der Brut dargereichten Süßigkeiten zu Ende gehen würden. Da war der Galgenhumor angesichts des überaus korpulenten Zugführers: „Wenn der aussteigt, haben wir fünf Prozent weniger Gewicht“. Insgesamt zeigte sich das bewundernswerte Talent der Deutschen zur nachhaltigen Leidensgemeinschaft. "
Geht noch weiter + Quelle:
https://www.achgut.com/artikel/der_sonntagsfahrer_der_uglauf_von_oschatz---
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