Wegen der Bezahlschranke stelle ich den Volltext ein (Plädiere aber andernfalls dafür, bei längeren Texten nur wichtige Auszüge direkt ins Forum zu kopieren, wenn die verlinkte Seite für alle einsehbar ist)
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/energieversorgung-wie-kam-es-zur-abhaengigkeit-von-russland-17943604.htmlAm Anfang stand Oldenburg: Erstmals in Westdeutschland stellte eine Großstadt ihre Gasversorgung komplett von Stadtgas, das aus Kohle hergestellt wird, auf Erdgas um. Es wurde in der Region gefördert und hatte einen deutlich höheren Brennwert. Von Oldenburg aus eroberte das Erdgas als Energiequelle die Wohnungen der Deutschen. Etwa zur selben Zeit witterten 300 Kilometer südlich im Ruhrgebiet die Chefs der Stahlunternehmen Hoesch, Mannesmann und Thyssen einen vielversprechenden neuen Absatzmarkt: In der Sowjetunion sollten gewaltige neu entdeckte Öl- und Gasvorkommen erschlossen werden. Trotz des Kalten Kriegs begannen die Industriebarone im großen Stil die dafür benötigten Stahlröhren zu liefern, 600 000 Tonnen wurden in den kommenden drei Jahren für die Russen produziert. Deutsche Unternehmen halfen mit, die Sowjetunion zur Energiegroßmacht zu machen.
1962
Im Bundeskanzleramt in Bonn hatte Konrad Adenauer Ärger mit Washington. US-Präsident John F. Kennedy drängte angesichts der Kubakrise, die kurz zuvor beinahe zu einem Atomkrieg der beiden verfeindeten Supermächte geführt hatte, auf einen Stopp der deutschen Röhrenlieferungen an die Sowjetunion. Die Vereinigten Staaten erwirkten sogar einen entsprechenden NATO-Beschluss. Adenauer beugte sich dem Druck und verhängte ein Röhrenembargo, das die Geschäfte vorerst beendete.
Deutsche Industrielle warben für die Wiederaufnahme des Handels. Eine Schlüsselfigur war der Unternehmer Otto Wolff von Amerongen, langjähriger Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, der wichtigsten bundesdeutschen Schaltstelle für den Handel mit der Sowjetunion. Die Wirtschaft betrieb eine Art Nebenaußenpolitik. Industrielle wie Berthold Beitz, der Doyen des Krupp-Konzerns, erhielten Privataudienzen beim Sowjetherrscher Nikita Chruschtschow. 1966 war die Industrie am Ziel: Ludwig Erhard, Adenauers Nachfolger im Kanzleramt, hob das Röhrenembargo auf.
1969
Im Januar schickte Wirtschaftsminister Karl Schiller seinen jungen Staatssekretär Klaus von Dohnanyi nach Moskau, um einen großen Deal vorzubereiten. Bonn hoffte auf günstige Energielieferungen durch neue Pipelines, Moskau auf Deviseneinnahmen. Der Prager Frühling im Jahr zuvor, als russische Panzer die Liberalisierungspolitik im sozialistischen Bruderstaat Tschechoslowakei niedergewalzt hatten, war für die Bundesregierung kein Hinderungsgrund.
Die Erdgasgeschäfte flankierten die neue Ostpolitik, die Außenminister Willy Brandt von seinem Vertrauten Egon Bahr entwerfen ließ. Sie setzten auf „Wandel durch Annäherung“, gemeint waren damit auch engere Handelsbeziehungen. Die Wirtschaft war mit an Bord: Ab dem Frühjahr verhandelte Ruhrgas diskret über ein spektakuläres deutsch-russisches Dreiecksgeschäft. Der Konzern war ein Eckpfeiler des damaligen Systems eng verbundener Großunternehmen, der „Deutschland AG“, und marktbeherrschend in der Bundesrepublik.
1970
Im noblen Hotel Kaiserhof in Essen wurde am 1. Februar ein bahnbrechender Wirtschaftsvertrag geschlossen, der als erster „Erdgas-Röhren-Vertrag“ in die deutsche Wirtschaftsgeschichte einging. Die Russen sollten über 20 Jahre hinweg Erdgas im Gesamtwert von 2,5 Milliarden Mark an Ruhrgas liefern. Dafür sollte die sowjetische Transgas-Pipeline nach Deutschland geführt werden. Die benötigten Großröhren lieferten Mannesmann und Thyssen. Den Kredit dafür organisierte Wilhelm Christians, Vorstand der Deutschen Bank. Die Russen sollten das Darlehen mit Einnahmen aus dem Gasexport abstottern. Wolff von Amerongen sprach von „einer neuen Phase der Weltwirtschaft“.
Die Liefermengen waren im Vergleich zu den heutigen Verhältnissen zwar bescheiden. Doch der Überraschungscoup war ein wirtschaftlicher Eisbrecher im Kalten Krieg. Zugleich begann mit dem Geschäft die deutsche Abhängigkeit vom russischen Erdgas. Als die neue Pipeline 1973 in Betrieb ging, steuerte Russland nur 5 Prozent der deutschen Gasimporte bei. Wichtigster Lieferant waren damals die Niederlande. Bis 1980 sollte sich der Anteil der Gasimporte aus der Sowjetunion auf ein Drittel vervielfachen. Auch der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft blühte auf. Binnen kurzer Zeit verzehnfachte sich seine Mitgliederzahl auf mehr als tausend Unternehmensvertreter.
1973
Zwei Jahre nach dem ersten Erdgas-Röhren-Vertrag wurde nach ähnlichem Strickmuster ein zweites Abkommen geschlossen, bei dem wiederum Mannesmann die Hardware bereitstellte. Es folgten weitere Verträge, die jahrzehntelange russische Gaslieferungen vorsahen. Inzwischen regierte in Bonn Helmut Schmidt. Wie heute für Olaf Scholz war für ihn damals die sichere und bezahlbare Energieversorgung zum drängenden Problem geworden: Das arabische Ölstaatenkartell OPEC hatte 1973 die Fördermenge gekürzt, was zu einem nie da gewesenen Ölpreisanstieg führte.
Schmidt sah Gaslieferungen aus Russland als Chance, die deutsche Energieversorgung zu diversifizieren. Die Vorzeichen waren Mitte der Siebzigerjahre also genau umgekehrt: Während Russland heute das Problem ist, sollte die Sowjetunion damals der Bundesrepublik helfen, sich aus der Abhängigkeit von den arabischen Ölscheichs zu befreien. Schmidt sah die Tauschgeschäfte – Erdgas gegen Röhren – auch als Friedenspolitik. „Wer Handel treibt, der schießt nicht aufeinander“ lautete sein Motto. Deutschland versprach sich eine doppelte Dividende: den Frieden sichern und zugleich gute Geschäfte machen.
1981
Im November wurde ein neuer Megadeal vereinbart. Der russische Lieferant Soyusgaz, Vorläufer des heutigen Gazprom-Konzerns, vereinbarte mit Ruhrgas die langfristige Lieferung von weiteren acht Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr nach Deutschland. Vereinbart war eine Laufzeit bis 2008. Dafür sollte eine mehr als 4000 Kilometer lange Pipeline von der sibirischen Halbinsel Jamal nach Europa gebaut werden. Doch es gab einen entschiedenen Gegner des Projekts: US-Präsident Ronald Reagan vertrat einen harten Kurs gegenüber Moskau, daher wollte er die Lieferung europäischer Kompressoranlagen für die Super-Pipeline unbedingt verhindern. Wie Jahrzehnte später Donald Trump warnte Reagan, Europa mache sich durch das russische Gas erpressbar.
Und ein weiteres Argument von heute spielte schon Anfang der Achtzigerjahre eine Rolle: Der Westen solle mit seinen Energieeinkäufen nicht Moskaus Kriege finanzieren. Damals ging es um den Feldzug, den Kremlherrscher Leonid Breschnew in Afghanistan führte. Die Vereinigten Staaten verhängten Sanktionen gegen britische und französische Unternehmen, auch der deutsche Hersteller AEG-Kanis war betroffen. Es folgte eine schwere Krise der transatlantischen Beziehungen. Schmidt, die britische Premierministerin Margaret Thatcher und Frankreichs Präsident François Mitterrand verteidigten die Pläne. Auch Schmidts Nachfolger Helmut Kohl hielt daran fest. Am Ende lenkte Reagan ein, er nahm die Sanktionen im Herbst 1982 zurück.
1990
Mit dem Ende des Kalten Krieges wuchs der russische Einfluss im deutschen Gasmarkt weiter. Inzwischen stammte die Hälfte der deutschen Importe aus Russland. Doch der neu formierte Gazprom-Konzern wollte nicht mehr nur Lieferant sein – er stieg auch in den Vertrieb in Deutschland ein. Dafür gründete Gazprom im November ein Gemeinschaftsunternehmen mit der BASF-Tochter Wintershall. Es entwickelte sich zu einem potenten Rivalen von Ruhrgas.
2005
Jahrelang hatten deutsche Spitzenmanager wie Ost-Ausschuss-Chef Klaus Mangold, E.ON-Ruhrgas-Chef Burckhard Bergmann und Deutsche-Bank-Vorstand Tessen von Heydebreck für den Bau einer neuen Gasleitung durch die Ostsee nach Deutschland getrommelt. In den letzten Tagen seiner Regierungszeit stimmte Bundeskanzler Gerhard Schröder im September 2005 dem Projekt Nord Stream zu – gegen den Widerstand von Polen und Litauen. Der 5,7 Milliarden Euro teure Pipelinebau wird von BASF, E.ON und Gazprom getragen. „Diese Zusammenarbeit ist gegen niemanden gerichtet, sondern dient deutschen Interessen und dient russischen Interessen. Ich wüsste nicht, was daran falsch sein sollte“, sagte Schröder. Drei Monate später, inzwischen als Bundeskanzler außer Dienst, wurde er Verwaltungsratschef der Betreibergesellschaft.
2015
Im September vereinbarten BASF und Gazprom ein milliardenschweres Tauschgeschäft: Die Russen übernahmen die Kontrolle über das gemeinsame Vertriebsunternehmen Wingas, das rund ein Fünftel des deutschen Gasmarkts kontrollierte, und auch das Gasspeichergeschäft von BASF – darunter den größten europäischen Erdgasspeicher im niedersächsischen Rheden. BASF erhielt dafür eine Beteiligung an sibirischen Gasfeldern. Beide Unternehmen hatten das umstrittene Geschäft im Jahr zuvor verschieben müssen, nachdem Russland die ukrainische Krim annektiert hatte. Mario Mehren, Chef der BASF-Gassparte Wintershall, verteidigte die Energiepartnerschaft mit Russland bis zuletzt: „In Sibirien bibbern wir, damit Sie nicht frieren“, sagte er der F.A.S. im Februar 2022 – sechs Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.