Warum die Ukraine nicht in die EU gehörtEine Essay von Guenter Verheugen, deutscher Politiker, der von 1999 bis 2004 als EU-Kommissar für Erweiterung und anschließend von 2004 bis 2010 als EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie taetig war.
Er war auch einer der 5 Vizepraesidenten der 27-koepfigen Barroso-Kommission.
https://weltwoche.ch/story/warum-die-ukraine-nicht-in-die-eu-gehoert/Der Artikel kann nur eingeloggt gelesen werden, darum stelle ich ihn (copy/paste) im Ganzen ein:
Eine Analyse der EU-Ukraine-Beziehungen sollte mit zwei grundsätzlichen Feststellungen beginnen.
Erstens: Das europäische Integrationsprojekt bezieht sich auf den gesamten Kontinent. Im EU-Vertrag heisst es, dass jeder europäische Staat sich um die Aufnahme in die EU bewerben kann. Es ist also kein Land per se ausgeschlossen, selbst Russland nicht, obwohl die Vorstellung einer EU, die von Lissabon bis Wladiwostok reichen würde, sehr verwegen wäre. Aber gesamteuropäische Integration bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich die EU über ganz Europa ausbreitet.
Um Distanzierung bemühtAndere Formen der Kooperation und Partnerschaft sind möglich, wie das Beispiel des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz zeigt, denn es gibt keine Verpflichtung auf Teilnahme an der EU. Aber wie dem auch sei, die Ukraine kann EU-Mitglied werden, wenn sie es will, und die dafür notwendigen Bedingungen erfüllt.
Zweitens: Die Ukraine ist der Nachbar von vier EU-Mitgliedstaaten, aber eben auch der grösste westliche Nachbar Russlands. Sie ist zudem mit Russland auf vielfältige Weise historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verflochten. Und deshalb wurde das Land Gegenstand eines geopolitischen Tauziehens zwischen den USA und Russland.
Rückblickend ist es ein unbegreiflicher Fehler, dass die EU sich in die internen Angelegenheiten der Ukraine einmischte.
Die strategische Position der USA ist offenkundig. Um zu verhindern, dass Russland noch einmal zu einem machtpolitischen Rivalen aufsteigen würde, soll die Ukraine nicht zu einer wie auch immer gearteten russischen Einflusszone gehören. Es geht bei dieser Politik nicht um das Wohlergehen der Menschen der Ukraine, sondern um die strategische Schwächung Russlands.
Angesichts dieser Ausgangslage ergibt sich, dass die Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine idealerweise einer gleichzeitigen, tragfähigen Regelung des Verhältnisses zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen der EU und Russland bedarf. Eine Zeitlang sah es so aus, als könnte das gelingen, obwohl die EU, das sollte man nicht vergessen, lange Zeit nicht so recht wusste, wie sie mit der Ukraine und ihrem Drängen nach einer europäischen Perspektive umgehen sollte.
In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts war die EU eindeutig um Distanzierung bemüht. Die Devise war, dass der Ukraine auf keinen Fall irgendwelche politischen Zusagen gemacht werden sollten. Und tatsächlich ist es so, dass es ein klares Beitrittsversprechen der EU bis auf den heutigen Tag auch nicht gibt. Stattdessen gibt es eine schrittweise Heranführung, wie zuletzt durch die Assoziierung, ohne Definition eines endgültigen politischen Ziels.
Gegen diese schrittweise Heranführung gab es zunächst auch keinerlei russische Widerstände. Die Verhandlungen über die EU-Assoziierung der Ukraine waren bereits 2011 abgeschlossen. Die Ukraine war unter ihrem als «prorussisch» deklarierten Präsidenten damals zur Unterschrift auch bereit. Es war die EU, die damals nicht unterschreiben wollte, weil einige «Strategen» in Washington und Berlin es für angemessen hielten, mit parteipolitisch motivierten Schachzügen die politische Zukunft eines grossen europäischen Landes aufs Spiel zu setzen, siehe den Fall Tymoschenko und die Verbindung mit antirussischen Kräften.
Unbegreifliche Entweder-oder-PolitikEs geht bei dieser Politik nicht um das Wohlergehen der Menschen, sondern um die strategische Schwächung Russlands.2013 hatte sich die ökonomische und finanzielle Lage der Ukraine substanziell verschlechtert. Die EU verweigerte damals dem ukrainischen Präsidenten grosszügige makroökonomische Unterstützung, was dazu führte, dass der ukrainische Präsident zunächst die Aussetzung der Assoziierung vorschlug. Dieser Vorschlag löste die Ereignisse des Maidan aus. Auf dem Maidan versammelten sich keineswegs nur leidenschaftliche Europäer. Der Maidan wurde zum Sammelplatz der gesamten Opposition gegen Wiktor Janukowytsch, und die Kontrolle übernahm praktisch deren extrem rechter, russophober Flügel.
In der Rückschau erscheint es nicht nur als unbegreiflicher Fehler, dass die EU sich in die internen Angelegenheiten der Ukraine massiv einmischte. Zudem erschliesst sich einem vernünftigen Nachdenken auch nicht, warum die EU die Ukraine grundsätzlich vor die Wahl stellte, Freihandel mit der EU zu betreiben oder mit der von Russland etablierten Eurasischen Union.
Es gab durchaus Stimmen, die es in der EU ganz im Gegenteil für vorteilhaft hielten, wenn die Ukraine mit beiden Wirtschaftsblöcken verbunden sein und so die Brücke zu einem grossen europäischen Wirtschaftsraum bilden würde. Eine solche Lösung hätte auch zum inneren Frieden in der Ukraine beigetragen, denn durch zahlreiche Umfragen bis in die jüngste Zeit hinein wissen wir, dass die Mehrheit der Menschen in der Ukraine diese Entweder-oder-Politik ablehnte.
Zu den Unbegreiflichkeiten gehört auch, warum seit 2011 nicht mehr mit Russland über die Auswirkungen einer EU-Assoziierung der Ukraine auf Russland gesprochen wurde. Das Argument, die Verhandlungen der EU mit einem souveränen Staat gingen Dritte nichts an, ist barer Unsinn. Auch die EU betont ständig, dass sie keine Verträge zu Lasten Dritter abschliesst. Das war auch der Grund, weshalb vor der EU-Osterweiterung 2004 sehr wohl mit Russland über seine politischen und wirtschaftlichen Besorgnisse gesprochen wurde. Damals wurden tragfähige Lösungen gefunden – warum hätte das im Fall der Ukraine nicht auch gelingen sollen?
Aber das ist nun alles Schnee von gestern. Während man also mit guten Gründen argumentieren kann, dass die EU mehr hätte tun können, um die Konfrontation zu vermeiden, die jetzt im Krieg explodierte, ist es sehr schwer einzuschätzen, ob ein Beitrittsversprechen heute irgendetwas verändern würde.
Die Frage eines EU-Beitritts wird sich mit grosser Dringlichkeit erst stellen, wenn es um die Nachkriegsordnung geht. Erst dann wird sich zeigen, ob und wie über den von der Ukraine gestellten Beitrittsantrag entschieden werden wird. Aber unabhängig von einem nächsten rechtsverbindlichen Schritt sollte die EU ihre bisherige Hinhaltetaktik aufgeben und nunmehr eine Strategie für den ganzen Kontinent vorlegen, in der auch die Ukraine ihren richtigen Platz findet.
Herkulesaufgabe für die UkraineJetzt aber dürfen auf keinen Fall unrealistische Erwartungen geweckt werden. Ein EU-Beitritt der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt als rein politisches Zeichen würde die europäische Integration in ihren Grundfesten erschüttern und möglicherweise sogar zerstören. Denn auch im Fall der Ukraine darf das Fundament der EU nicht beschädigt werden, und dazu gehört nun einmal, dass es für alle EU-Staaten klare und verbindliche Regeln gibt, die sich auch in den Beitrittskriterien spiegeln.
Das heisst, dass auch im Fall der Ukraine die Beitrittskriterien gelten müssen. Sie glaubwürdig zu erfüllen, wird für die Ukraine eine Herkulesaufgabe sein, die viel Zeit und Kraft braucht und jede Menge EU-Unterstützung, die weit über das hinausgeht, was jemals für einen beitrittswilligen Staat geleistet wurde. Die Erfahrungen mit dem Assoziierungsvertrag ab 2014 zeigen, dass es vor allem die politischen Strukturen sind, die den notwendigen Transformationsprozess in der Ukraine massiv behindern. Gleichzeitig galt aber auch, dass der Konflikt mit Russland es der Ukraine erschwerte, ihr Potenzial zu entfalten.
Wie gross die Herausforderungen für die Ukraine sind, hat im Jahr 2015 eine Studie der Agency for the Modernisation of Ukraine (AMU) unter Leitung von Michael Spindelegger dargestellt. Das dort enthaltene proeuropäische Reformprogramm ist seinerzeit nicht realisiert worden. Nicht weil es inhaltlich falsch gewesen wäre, sondern weil Kräfte in der Ukraine und in Washington kein Interesse an einer Realisierung hatten. Inzwischen haben sich die Bedingungen in der Ukraine weiter dramatisch verschlechtert. Aber wenn man einen neuen Reformanlauf braucht, und das wird man, dann ist es sinnvoll, auf den Überlegungen und Erfahrungen von damals aufzubauen.