Das Jahr 1973 verbrachte ich in Indien. Mit 20 begann ich im Land herumzureisen, Klöster und heilige Orte zu besuchen und Menschen zu treffen. Die Briefe, die ich von dort an meine Eltern schrieb, haben diese aufbewahrt. Sie zeugen von meinen Erlebnissen und meinen Erwartungen vor einem halben Jahrhundert. Sie sprechen für sich und ich werde nur wenige, notwendige Zusätze machen. Für Fragen bin ich natürlich offen und einige Anekdoten werde ich auch mitliefern.
Die Entscheidung nach Indien zu gehen, ohne den Plan zurückzukehren, traf ich in einer Nacht. Ich hatte zuvor im TV den Film "Unterwegs nach Kathmandu" gesehen. Der Filmdienst schreibt dazu: "Deutscher Spielfilm aus 1970/71. Vier junge Menschen brechen aus Überdruss und Unsicherheit in eine ungewisse Zukunftshoffnung auf. Ihre Wanderung nach Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, dem Zielpunkt der Hippie- und Haschgeneration, schildert der Film in Reisebildern von außergewöhnlicher Schönheit, hinter deren Qualität das wirre Drehbuch weit zurückbleibt." Leider ist der Film nicht mehr auffindbar.
Es gibt natürlich eine Vorgeschichte. Ich befand mich in einem Internat mit Gymnasium, das von einem katholischen Orden geleitet wurde. Wenige Monate waren es bis zum Abitur. Auf der einen Seite war ich ein Hippie, ein Rebell. Ich war mit der Erste, der Bart und Haare wachsen ließ, wir rauchten Pfeife und dann Rothändle, besuchten heimlich Gasthäuser um zu trinken. Ich verfolgte die 68er Unruhen, die Black Panther in den USA und die Anti-Vietnam Demonstrationen, ich besuchte sogar die Versammlungen der Kommunistischen Partei bis es mir von der Heimleitung verboten wurde. Die Quittung bekam ich im Abiturzeugnis. Doch das ist eine andere Geschichte.
Andererseits suchte ich nach dem Sinn des Lebens und nach Gott. Die kirchlichen Antworten befriedigten mich nicht. Ich begann viele Bücher zu lesen, von den Philosophen der Antike bis zur Neuzeit und dann dicke Bücher über Hinduismus und Buddhismus und Bücher von und über indische Heilige. Ich besuchte ein paar mal die blauen Häuser in Winterthur, in denen Swami Omkarananda lehrte. Die Vorstellung, dass wir eins mit allem sind, überzeugte mich.
In meiner Familie und meiner Umgebung stieß ich auf Unverständnis, aber bevor ich anfinge zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, musste ich zuerst ergründen, was der Sinn und das Ziel des Lebens ist. Dazu würde ich auch jahrelang bei einem Guru im indischen Dschungel bleiben.
Ich arbeitete einige Wochen bei einer Gartenbaufirma, um etwas Geld zu verdienen, machte noch eine Abschiedstour zu Verwandten und flog mit einem One-Way Ticket von Amsterdam aus nach Neu-Delhi. Ich hatte ein Visum für 1 Jahr bekommen und mein erstes Ziel würde der Ashram von Sri Aurobindo in Pondicherry sein. Meine Oma unterstützte einen Priester in Zentral-Indien, eine Schwester dieses Ordens würde mich am Flughafen abholen.
Genug der Vorrede. Leider habe ich kein Tagebuch geführt, viele Details und Zusammenhänge sind mir entfallen. Es gab kein Internet, kein Handy und kein GPS. Die Kommunikation lief mit den Menschen und Stellen in Indien wie mit meinen Eltern über Briefe.
22.1.73
Catholic Bishops´ Conference of India
Alexandra Place
New Delhi – 1
Lieber Vater, liebe Mutter, Oma und Erich,
Ich sitze hier in einem Zimmer, das nach den Verhältnissen, die ich bisher sah in Indien, luxuriös ist, mit WC und Dusche. Es ist ein Gastzimmer in der Katholischen Bischofskonferenz in Indien und eben habe ich mit Bischöfen zu Abend gegessen. Schwester George hat dies arrangiert. Ich weiß nicht, was ich ohne die kleine Inderin gemacht hätte. Vielleicht säße ich schon im nächsten Flugzeug nach Europa. Ich könnte Euch nun alle Ereignisse brühwarm schildern, doch ich glaube, dass ich zuerst einmal Abstand von allen Eindrücken gewinnen muss. Ihr hattet recht: ich bin aus dem Nest gefallen und morgen fahre ich zu Fr. Jacob, der mir das Fliegen beibringen muss. Mit meinem Englisch bin ich so ziemlich am Ende. Doch ich will solange bei Fr. Jacob bleiben, bis ich mich einigermaßen unterhalten kann. Schwester George fuhr mich im Taxi herum und zeigte mir Delhi. Doch ich konnte nur alles registrieren, zum Nachdenken brauche ich Zeit. Schon im Flugzeug fühlte ich, wie allein ich und wie fremd mir alles war. Der Flug in der engen, überfüllten, schwankenden Maschine war ein Abenteuer für sich. Doch jeder Augenblick ist hier gefährlich, ob ich im Autobus fahre oder nur über die Straße will. Das Essen ist schrecklich gewürzt und auch das Hühnerfleisch ist anders, zäher und älter. Mein Urteil über etwas Essbares muss ich zukünftig ziemlich tiefer ansetzen. Seid jedoch jetzt nicht alle entsetzt und verängstigt; ich glaube fest, dass ich mich nach einigen Tagen bei Fr. Jacob wieder fangen werde. Jetzt jedenfalls ist mir alles fremd, auch ich mir selbst. Doch ich bin gesund angekommen und Gott wird weiterhelfen. Wer auf Ihn zugeht, dem kommt Er auch entgegen. Daran darf ich keinen Zweifel aufkommen lassen. Wenn ich bei Fr. Jacob bin, schreibe ich wieder. Die Bahnfahrt verspricht abenteuerlich zu werden. Seid nicht ängstlich und bewahrt Euer Vertrauen auf Gott und Eure Gebete. Grüßt bitte alle Bekannten in L., vor allem Toni-Vetter und Frau Kulik. Und bitte versucht, die Ausdauer im Gebet und in der Hoffnung, die ich selbst aufbringen muss, zu bewahren, und Gott wird sie uns beiden lohnen. Nun will ich mich noch duschen. Ich bin müde und muss alles überschlafen. Jetzt erscheint mir alles wie im Traum. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, würde ich es nicht glauben, dass ich in Indien bin. Bis bald! Viele Grüße und Küsse
Euer Hans