Russland führt einen Krieg ohne Grenzen
MASSAKER AN ZIVILISTEN
Russland führt einen Krieg ohne Grenzen
VON MARKUS WEHNER, AKTUALISIERT AM 10.04.2022-08:18
Die Brutalität der russischen Armee hat System. Schon vor 20 Jahren wüteten Moskaus Soldaten in Tschetschenien. Was damals passierte, ähnelt bis in Details den Gräueltaten in der Ukraine.
Schamat hat den Krieg im Keller überlebt. Fünf Monate hat er dort gehaust, zusammen mit sechs anderen Bewohnern seines Wohnblocks, drei Männern und drei Frauen. Seine Familie hatte die Stadt verlassen, als die ersten Bomben der Russen fielen. Doch Schamat wollte nicht das Einzige aufgeben, was die Familie hatte: die Wohnung in Grosnyj, der Hauptstadt von Tschetschenien.
Raus gingen die Kellerbewohner nur, um Wasser und Brennholz zu holen. Manchmal schlüpfte Schamat in einen Nachbarkeller, um zu sehen, wie es den anderen ging, um Nachrichten auszutauschen. In seinem Keller hatten sie ein Radio mit Batteriebetrieb. „Sie meldeten die erste, zweite, dritte Etappe der antiterroristischen Operation. Wir konnten das schon nicht mehr hören. Was für Etappen, wenn du im Bombenhagel im Keller sitzt?“ Wochenlang hatte Schamat immerzu Angst, eine Bombe könne das Haus treffen, er wisse gar nicht, wie er das ausgehalten habe, sagt er. Irgendwann trat Stille ein. Die tschetschenischen Kämpfer waren abgezogen aus der Stadt.
Nun kamen die Russen. Es waren junge Soldaten. Sie fragten, ob noch jemand im Keller sei. Dann warfen sie Granaten hinein. Im Nachbarhaus lebten sieben Männer und fünf Frauen im Keller. Zu ihnen waren andere russische Soldaten gekommen. Schamat fand die Nachbarn am nächsten Tag leblos vor dem Haus liegend. Die Russen hatten alle aus dem Keller geholt und erschossen. „Die Leichen lagen noch tagelang da“, sagt Schamat. „Sie haben die ganzen Qualen auf sich genommen. Und dann erschießt man sie einfach.“
Seine Geschichte hat Schamat im März 2000 erzählt, damals 60 Jahre alt. Grosnyj war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als eine Wüste aus Stein, Schrott und Erde. Kein Haus im Zentrum der Stadt war heil geblieben, nachdem die russische Armee die Stadt wochenlang mit Raketen beschossen und bombardiert hatte. Aus den Ruinen gähnten schwarze Löcher. Es waren Bilder, wie sie heute wieder in Mariupol zu sehen sind. In den Häusern, die nicht völlig zerstört waren, herrschte die Verwüstung der Plünderer.
Selbst als die Tschetschenen abzogen, wurde weiter gebombt
Die russischen Soldaten transportierten alles ab, was noch übrig war: Möbel, Elektrogeräte, Hausrat, Kleider. Die Erdbauten der Soldaten waren mit Teppichen ausgelegt. Die verbliebenen Einwohner in Grosnyj, es waren meist alte Russen, standen stundenlang an, um eine Kelle Haferbrei vom Notstandsministerium zu bekommen. Das Ministerium leitete zu dieser Zeit Sergej Schojgu, heute Russlands Kriegsminister.
Damals wartete auch Alexander in der Schlange. Seine Mutter wurde getötet, als sie aus dem Keller hoch in die Wohnung ging. Eine Bombe traf das Haus, ein schneller, glücklicher Tod, sagte ihr Sohn damals. Alexander hatte sie im Hof unter Bombenbeschuss begraben. Als die Kämpfe aufhörten, grub der Russe sie wieder aus und setzte sie auf dem Friedhof bei.
Am Minutka-Platz in Grosnyj waren von den neunstöckigen Plattenbauten nur Steinhaufen übrig, es sah aus, als seien die Häuser gesprengt worden. Selbst als die tschetschenischen Kämpfer abgezogen waren, wurde hier weitergebombt. Hunderte russische Soldaten schickte die militärische Führung in den Kämpfen um den Platz in den Tod. Denn Grosnyj musste fallen, bevor der damalige Kriegsherr, Ministerpräsident , sich zum Präsidenten wählen ließ.
In Grosnyj war der Tod damals allgegenwärtig. Jeden Tag wurden im Frühjahr 2000 Leichen in den Häusern gefunden, in Kellern und unter Schutt. Es steht zu befürchten, dass es in Mariupol und anderen ukrainischen Städten auch so kommen wird. Nicht nur in Grosnyj war das damals so in Tschetschenien.
„Man muss sie einfach alle vernichten“
Als „antiterroristische Operation“ hatte Putin den Feldzug gegen Tschetschenien bezeichnet, ein Begriff, der nun an die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine erinnert. In Wirklichkeit war es ein rücksichtsloser Krieg im eigenen Land, der nicht nur eine Trümmerlandschaft hinterließ, sondern auch eine tief verwundete, dezimierte Nation. Schon der erste Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 unter Putins Vorgänger hatte nach Schätzungen 80.000 Opfer gefordert. Er endete mit einem Waffenstillstand, der einem Sieg der Separatisten gleichkam.
Diese Schmach wollte Putin tilgen. Gegen die Tschetschenen, die nur eine Republik der Größe Schleswig-Holsteins bewohnten, setzte er die ganze russische Militärmaschine ein. Sie bekämpfte eine Nation, die in ihrer Mehrheit unabhängig sein wollte, in der sich aber auch radikale Islamisten und Banditen breitgemacht hatten.
Wollte Russland die Tschetschenen vernichten? In der Stadt Gudermes gab es damals einen russischen Kommandanten, General Alexander Stoljarow. Natürlich seien nicht alle tschetschenischen Kämpfer Banditen, höchstens zehn Prozent, sagte er im Gespräch. Die anderen seien dabei, weil sie auch eine Waffe tragen, nicht zurückstehen wollten hinter ihren Freunden, ja auch, weil sie ihre Heimat verteidigen wollten. Dennoch sagte der General den Satz, der damals höchst populär war: „Man muss sie einfach alle vernichten.“
Putin selbst hatte diese Losung schon frühzeitig vorgegeben. Er sagte, man werde die Terroristen in Tschetschenien wie Schlangen zertreten, ja wenn es sein müsse, sie sogar „auf dem Scheißhaus kaltmachen“. „Das ist kein Krieg gegen die tschetschenischen Kämpfer, sondern gegen das Volk“, sagte damals ein tschetschenischer Chirurg im Krankenhaus in Gudermes. An dem Tag wurden vier Kinder mit zerfetzten Beinen eingeliefert, sie hatten in einem nahe gelegenen Dorf mit einer Mine gespielt, das älteste, ein 14 Jahre alter Junge, starb kurz darauf. Der Krieg werde allein aus politischen Gründen geführt, sagte der Chirurg.
Selbst Kinder wurden mit Elektroschocks gefoltert
„Sdorowje“ ist das russische Wort für Gesundheit. Sdorowje heißt auch eine Datschensiedlung in der Nähe von Grosnyj. Dort wurde im Februar 2001 ein Massengrab mit 50 Leichen entdeckt. Die meisten Toten wurden mit Kopfschüssen getötet, viele hatten die Augen verbunden und die Hände gefesselt. So berichteten es Mitarbeiter der mittlerweile verbotenen Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Manche Leichen hatten Schnittwunden am Hals und im Gesicht. Bei anderen war ein Ohr abgeschnitten, eine Leiche wurde skalpiert. Einige Tote konnten rasch identifiziert werden.
Es waren Männer, die zuvor von russischen Soldaten zu Hause festgenommen und verschleppt worden waren. Solche Morde gehörten genauso zum Krieg in Tschetschenien wie die systematische Folter von Zivilisten. Nach Angaben von „Amnesty International“ vom Frühjahr 2000 gab es in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken mindestens 20 geheime Gefängnisse, in denen Gefangene gefoltert und umgebracht wurden. In „Filtrationslagern“ wurden Männer, Frauen und selbst Kinder mit Elektroschocks gefoltert, mit Knüppeln geschlagen und vergewaltigt.
Als die tschetschenischen Kämpfer aus Grosnyj abgezogen waren, begann ein grausamer Partisanenkrieg. Die russische Armee griff zu sogenannten „Säuberungen“, durchkämmte die Orte nach Kämpfern. Dabei fanden immer wieder Massaker statt, etwa am 5. Februar 2000 in Aldy, einem Vorort von Grosnyj. Dort wüteten 20 bis 30 Mann aus einer Omon-Sondereinheit des Innenministeriums, viele sollen betrunken gewesen sein. Bewohner wurden wahllos erschossen. Mindestens 92 Bewohner seien ermordet worden, berichteten damals Flüchtlinge aus dem Ort. Angeblich habe erst eine andere russische Einheit das Morden gestoppt.
Dutzende Berichte über solche Massaker gab es. Viele ließen sich nicht überprüfen, weil weder Journalisten noch Menschenrechtsorganisationen oder internationale Beobachter dorthin reisen konnten. Im Sommer 2002 kam die Internationale Helsinki Föderation für Menschenrechte nach Befragungen zu der Einschätzung, dass jeden Monat zwischen 50 und 80 tschetschenische Männer von russischen Soldaten ermordet wurden. Sie würden bei den sogenannten Säuberungen verhaftet und seien danach spurlos verschwunden. So wurden Tausende Zivilisten ermordet.
Unterricht über Kriegsverbrechen im Felde, mitten im Lärm
Es ist diese zügellose Willkür, auf Russisch „bespredel“ genannt, die das Vorgehen der russischen Soldaten charakterisiert. In den Krieg in Tschetschenien wurden, wie jetzt in die Ukraine, viele junge Wehrpflichtige geschickt, die mit ihrer Aufgabe völlig überfordert sind. Da sie selbst schlecht behandelt werden und das Gefühl haben, als Kanonenfutter zu dienen, leben sie ihren Frust und ihre Verzweiflung an wehrlosen Zivilisten aus. Zudem missachten viele Militärführer alle grundlegenden internationalen Vereinbarungen über die Kriegsführung.
Wie Russland mit diesen Verpflichtungen umgeht, das zeigt ein Beispiel Anfang 2000 in Grosnyj. Es wurden 22 Rekruten zum politischen Unterricht beordert, der im Felde stattfand. Ein Vorgesetzter las aus dem Strafgesetzbuch den Paragrafen über Kriegsverbrechen vor. Allerdings war beim Röhren eines Panzers und dem Fluglärm eines Hubschraubers absolut nichts zu verstehen. „Alles verstanden?“, fragte der Offizier am Ende seines Vortrags. 21 Rekruten bejahten die Frage, nur einer schüttelte unmerklich den Kopf.
Zum russischen Krieg gehört auch die Lüge über die eigenen Verluste. In Grosnyj berichtete im Februar ein Offizier, dass es in seinem Bataillon gar keine Verluste gegeben habe. Wenig später wurde bekannt, dass in dem Bataillon gerade 30 Mann bei Gefechten mit tschetschenischen Kämpfern getötet wurden. Das Verschweigen der wahren Verluste ist die Regel, die offiziellen Daten haben mit den wahren Zahlen Gefallener nichts zu tun. Nach Recherchen des damals noch unabhängigen russischen Fernsehsenders NTW fielen Anfang 2000 täglich 50 russische Soldaten in Tschetschenien.
Die Komitees der Soldatenmütter kamen unter Berufung auf Aussagen russischer Offiziere auf dieselbe Zahl. Das wären zu dieser Zeit, auf dem Höhepunkt der Gefechte, 1500 tote Soldaten im Monat gewesen. Die offizielle Statistik gab hingegen für ein halbes Jahr Krieg zwischen 700 und 800 gefallene Soldaten an.
Der Westen arrangierte sich
Der Westen übte Kritik am brutalen Krieg. Doch sie verstummte nach einiger Zeit. Putin gelang es damals, den Krieg als Aktion gegen islamistische Terroristen darzustellen. Tatsächlich hatte der Islamismus, in Tschetschenien eigentlich nicht beheimatet, in der Kaukasusrepublik Fuß gefasst, es gab Unterstützung für die Kämpfer aus Saudi-Arabien und anderen muslimischen Staaten, einige Kommandeure wie der Jordanier Al-Chattab standen für die Verbindung zum weltweiten Dschihad.
Die große Zahl ausländischer Kämpfer, von der die Kreml-Propaganda immer sprach, wurde allerdings nie gesichtet. Kriegsverbrechen wurden auch von tschetschenischer Seite begangen. Und in der Zeit der faktischen Unabhängigkeit herrschten oft Chaos und Schrecken; Entführungen, mit denen Geld erpresst wurde, waren an der Tagesordnung.
Putin nutzte das, um den Krieg gegen ein ganzes Volk als Anti-Terror-Operation darzustellen. Der Westen ließ sich darauf ein. Tschetschenien war weit weg. Den Kriegsverbrecher Putin gab es schon damals. Doch durfte er im September 2001 im Bundestag reden und wurde von den Abgeordneten mit Applaus gefeiert.
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wie-putin-schon-1999-in-tschetschenien-kriegsverbrechen-beging-17945836.html